Woran wir wirklich leiden
von Martin Rohm, September 2020
Krankheiten treten nicht ohne Grund in unser Leben. Oft sind sie wichtige Botschafter, die uns zeigen sollen, was nicht stimmt und ermöglichen uns, neue Wege zu gehen, die wir ohne die Krankheit wohl nicht gegangen wären. Um diesen „Schatz“ von Krankheiten zu heben, ist der erste Schritt, nicht die Symptome zu bekämpfen, sondern uns mit den tieferen Ursachen der Krankheit zu beschäftigen. Wenn bei meinem Auto eine Warnlampe aufleuchtet, klebe ich sie ja auch nicht einfach ab, sondern fahre zur nächsten Werkstatt, um zu schauen, was das Problem ist.
Von welcher Krankheit spreche ich in diesem Artikel? Das Hauptsymptom dieser Krankheit ist die Angst, die sich durch große Teile unseres Lebens zieht. Wir haben Angst vor der Zukunft, Angst vor unseren Mitmenschen, Angst vor dem Tod, Angst vor dem Leben, Angst vor unseren ungeliebten Anteilen, von denen wir vielleicht nicht mal etwas wissen (wollen). Verschiedene Begleitsymptome, die wir alle mehr oder weniger kennen, sind: Misstrauen, Gefühllosigkeit, Sinnentleerung, zurückgehaltene Wut, verschiedene Süchte und Depression.
Je mehr Symptome wir haben, diese aber nicht wahrhaben und fühlen wollen, sondern verdrängen, desto schwächer wird unser Immunsystem als Individuum und auch als Gesellschaft und desto wahrscheinlicher bricht die Krankheit richtig aus. Das passiert meiner Meinung nach genau in dieser Zeit.
Die Krankheit „Wetiko“
Der indianische Gelehrte Jack D. Forbes schreibt in seinem Buch „Columbus and Other Cannibals“: „Seit mehreren Jahrtausenden haben Menschen unter einer Pest gelitten, schlimmer als Lepra, eine Krankheit, schrecklicher als Malaria und entsetzlicher als die Pocken.“ Die Algonquin und andere indigene Völker bezeichneten die Geisteskrankheit des weißen Mannes, der im 15. und 16. Jahrhundert in ihren Heimatländern ankam, als „Wetiko“. Wörtlich übersetzt bedeutet das: „der Konsum eines anderen Lebens für den eigenen privaten Nutzen oder Profit.“ Forbes schließt daraus: „Diese Krankheit ist die schlimmste Epidemie, die der Mensch jemals erlebt hat.“
Wetiko bezeichnet die Illusion, als einzelner Mensch getrennt zu sein von der Mitwelt (also anderer Menschen, Tiere, Dinge) und sich über sie erheben zu können. Aus der Perspektive der Trennung erscheint diese entweder als Gegner, der bekämpft werden muss oder als Ressource, die völlig legitim rücksichtslos ausgebeutet werden darf. Die Beherrschung anderer ist ebenso erforderlich wie wünschenswert, da die eigene „fortschrittliche“ Kultur als die Überlegene gesehen wird.
Wer befallen ist, kann sich nicht mehr als Teil eines Systems wechselseitiger Abhängigkeiten wahrnehmen, sondern überhöht sich über andere, um dann im blinden Rausch sich immer mehr anzueignen, daraus Produkte zu produzieren und diese dann zu konsumieren. In der Wetiko-Logik ist es nötig, Ressourcen so schnell zu verbrauchen, wie es die Technologie erlaubt, und Effizienzsteigerungen in noch mehr Produktion und Konsum umzuwandeln. Paul Levy prägte dafür den Begriff Wetikonomie.
Wenn uns also erzählt wird, dass BIP-Wachstum die einzige Antwort ist, dass der Markt alles am besten selbst regelt und dass die Lösung komplexer Probleme in verbesserter Technologie liegt, dann sollten wir erkennen können, dass dies scheinbar unverrückbare „Wahrheiten“ der Wetiko-Logik sind.
An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass Wachstum, Märkte und Technologie zunächst etwas Neutrales sind. Je nachdem, wie wir sie ausgestalten, entfalten sie eine bestimmte Wirkung. So, wie wir es gegenwärtig tun, ist die Wirkung der drohende Kollaps weiter Teile des lebendigen Lebens auf der Erde.
Nach 5000 Jahren Patriarchat, 500 Jahren Kapitalismus und 50 Jahren Neoliberalismus zieht sich Wetiko durch die meisten Teile unserer Gesellschaft. Aus dem gefühlten, in der Vergangenheit immer wieder auch tatsächlichen Mangel haben wir ein System geschaffen, das zumindest für einige Menschen diesen Mangel sehr effizient beseitigt und noch nie dagewesenen materiellen Wohlstand geschaffen hat. Wir haben jedoch vergessen, dieses System rechtzeitig zu bremsen, und so läuft es ungebremst weiter, dem kollektiven Abgrund entgegen. Unsere Herzen sind taub geworden und uns fehlt der Zugang, unsere Verbundenheit zur lebendigen Mitwelt wieder zu entdecken. Unzählige Wesen gehen täglich an dieser chronischen Unfähigkeit zum Mitgefühl zugrunde.
Durch das feine Netz an „Wetiko-Fäden“, die sich durch uns und fast die gesamte Gesellschaft ziehen, ist es oft schwierig zu entdecken, dass wir an dieser Krankheit leiden. Wir sind so gewöhnt an den Status quo, dass uns Alternativen zunächst nicht nötig erscheinen und, sobald die Krankheit schlimmer wird, eine ganze Reihe von Mechanismen darauf abzielen, bloß nichts zu verändern, sondern lieber zu verdrängen, zu reparieren, zu kaschieren. Sollten wir uns tatsächlich auf Veränderung einlassen, dann bevorzugen wir diejenigen Lösungen, die möglichst einfach klingen und wir wählen die entsprechenden Politiker. Wir geben uns mit materiellem Wohlstand (den längst nicht alle haben) und einer großen Leere des Herzens zufrieden, die wir vielleicht erst in der Todesstunde hinterfragen.